»Das Leben ist eine Komödie für den Denkenden und eine Tragödie für die, welche fühlen.«
Hippokrates (460-370 v. Chr.)
»Körper und Geist in Einklang bringen.« 🧘♂️ Das klingt gut. Und bezeichnet eine Sehnsucht, die heute zahlreiche Menschen bewegt. Aber gibt es nicht eine unüberbrückbare Kluft zwischen Denken und Fühlen? 🤔 Oder können diese beiden Aspekte des menschlichen Daseins miteinander vereint werden?
Ausnahmsweise lässt sich nicht behaupten, dass es sich dabei um einen alten Wunsch der Menschheit handelt. Tatsächlich ist in der Geschichte der Philosophie die Harmonisierung von Körper und Geist äußerst selten thematisiert worden. Zwar mag das auch an der überwiegend körperfeindlichen christlich-kirchlichen Tradition liegen. In Europa pflegt man zudem seit Jahrhunderten den körperverachtenden Intellektualismus mit ebensoviel Hingabe wie einen dazu passenden intellektfeindlichen Körperkult. Aber auch in den großen außereuropäischen Weltentwürfen (z.B. Hinduismus, Buddhismus) finden wir für Körper-Geist-Friedensverträge wenige Vorbilder.
Yoga etwa ging seit jeher davon aus, dass Körper und Geist nur zum Schein miteinander verbunden sind. Gerade ihre tiefe Getrenntheit zu erkennen, war ein entscheidendes Ziel der Yoga-Praktiken. Dass dieselben Übungen dazu dienen sollen, die Einheit von ›Leib und Seele‹ zu festigen, ist eine Idee, die erst im Zuge der westlichen Adaption, v.a. im Kalifornien der 60er Jahre ☮️ auftaucht und sich von dort aus ausbreitet.
Das macht diesen Impuls aber keineswegs wertlos. Im Gegenteil bewiesen die Gurus der Hippie-Ära in dieser Hinsicht eine exzellente Intuition. 🌈 Es war überfällig, das Herumrätseln am alten Leib-Seele-Dualismus zu unterbrechen und endlich danach zu fragen, wie Körper und Geist zusammen finden und einander bestärken können. Hier sind drei Ansätze, wie das praktisch gelingen kann: 👇
»Wir müssen das Gefühl durch das Denken begreifen und gleichsam dem blinden Triebe Augen einsetzen durch den Begriff.«
Philipp August Böckh (1785–1867)
1) Räumliches Denken 📐
Wie bereits Immanuel Kant (1724-1804) dargelegt hat, bildet die leibliche Raumwahrnehmung die Voraussetzung für unsere äußere wie innere Orientierung. Unser Bewusstsein organisiert seine Umgebung nach ›Gegenden‹, sagt Kant – etwa Oben/Unten, Hinter-Mir/Links-Von-Mir etc. Dazu gehören auch alle Kategorien der Zeit und damit der Geschwindigkeit, Dynamik oder Formveränderung.
Viele unserer Wahrnehmungen haben eine leiblich-räumliche Komponente. Diese Wahrnehmungs-Muster bilden zugleich die Schablonen für unsere abstrakteren Gedanken. Als solche sind sie in unserer Sprache auffindbar.
🕳️ Z.B. bildet der ›Grund‹ von etwas eine imaginäre Basis für alle darauf bauenden Aussagen (ebenso be-gründen, er-gründen, grund-loses Behaupten, zu-grunde gehen etc.)
➡️ Z.B. wird ›folgt x aus y‹ vorgestellt als eine Kette oder ein Pfeil oder eine Bewegung, in der das eine aus dem anderen hervorgeht.
📍 Z.B. ist die ›Voraussetzung‹ etwas, das wir selbst im Voraus hin-gesetzt haben, um daraus etwas abzuleiten.
🌀 Z.B. werden Gedankenfiguren wie ›Zirkelschluss‹, ›Infiniter Regress‹ oder ›Leere Behauptung‹ räumlich vorgestellt.
Z.B. ebenso: kontrastieren, positionieren, hüten, bergen, unterminieren, erodieren, behaupten, erklären, fundieren, beziehen, kulminieren usw. usf.
Eine Technik, um den leiblichen Aspekt im Denken zu verstärken, besteht darin, die sprachlichen Bilder räumlich konsequent zu gestalten. Denn indem wir beim Denken räumliche Bilder bauen, aktivieren wir unser leibliches Verstehen, das sich primär räumlich orientiert.
Philosophisch ist diese Idee bereits bei Alexander Baumgarten (1714-1762) präsent, wurde aber unlängst ausgebaut, u.a. von Günter Figal (1949-2024), z.B. in seinem Buch ›Freiräume‹ (2017).
»Ein Glück für die Despoten, dass die eine Hälfte der Menschen nicht denkt und die andere nicht fühlt.«
Johann Gottfried Seume (1763–1810)
2) Formationen finden 🧩
Oft behandeln wir gedankliche Positionen so, als lägen sie einzeln und neutral vor. Dabei handelt es sich faktisch meistens um komplexe Konstellationen von Überzeugungen, die ineinander verhakt sind und ihren Halt und ihre Kraft aus persönlichen Erfahrungen, Erinnerungen und Emotionen beziehen.
Diese Überzeugungs-Konstellationen reichen tief in unsere leiblich-seelischen Schichten hinein, sie bilden nicht nur unseren Überbau, die Welt, in der wir zu leben glauben, sondern durchwirken unser Gefühlsleben.
Es sind nicht alle Überzeugungen mit allen anderen verbunden, sondern es gibt stets mehrere separate Formationen von Überzeugungen. Diese können neutral zueinander stehen oder einander widersprechen oder sich je nach Situation ablösen.
😈 Z.B. ist die Aussage ›Der Mensch ist im Grunde böse‹ wie bei Thomas Hobbes (»homo homini lupus« 🐺 – »Der Mensch ist dem Menschen ein Wolfe«) keine neutrale Behauptung, sondern auch eine Einstellung, die sich aus entsprechenden Erfahrungen speist und künftige Erfahrungen mitbestimmt.
💸 Z.B. ähnliche, vermeintlich neutrale Erkenntnisse wie ›Geld regiert die Welt‹, ›Die Natur sucht nach Gleichgewicht‹, ›Die Technik zerstört das menschliche Miteinander‹ usw. usf.
Eine Technik, um den leiblichen Moment des Denkens zur Geltung zu bringen, besteht darin, diese Formationen zu identifizieren. Eine gute Idee ist es, sie schrifltich festzuhalten. ✍️ Dann lässt sich leichter erkennen, welche Überzeugungen zusammen gehören, und eroieren, welche entscheidenden Erlebnisse und Emotionen im Hintergrund größerer Formationen stehen.
Man merkt bei dieser Übung schnell, wie emotional unser Denken eigentlich ist, auch wenn das unsere Überzeugungen nicht unwahr macht.
»Jeder sieht, was du scheinst. Nur wenige fühlen, wie du bist.«
Niccolò Machiavelli (1469-1527)
3) Sport als Körperkunde 🏃♂️
Es lässt sich nicht nur vom Geist auf den Körper zugehen, sondern auch umgekehrt der Körper ›geistiger‹ wahrgenommen werden. Wie? Indem man das Maß an Bewusstsein für die eigene Leiblichkeit erhöht.
Viele Sportarten sind darauf angelegt, bestimmte Bewegungen zu perfektionieren. Egal ob Fußball, Tanzen, Joggen oder Kraftsport: das Training soll spezifische Fähigkeiten stärken. 🏋️
Mit dieser Ausrichtung ist Sport nichts anderes als Arbeit: ein möglichst effizienter, zielgerichteter Einsatz von Energie, um ein bestimmtes Ergebnis zu erhalten. 🏹
Aber Sport lässt sich auch anders verstehen: etwa als Bewegungskunst, als Form der Muße (wie bei den alten Griechen) oder als Weg der leiblichen Selbsterkundung. Kein vorgegebener Bewegungsablauf, sondern eine Erforschung dessen, was mit dem eigenen Körper möglich ist. Ein Austesten der Grenzen, ein Dehnen der eigenen Reichweite, eine intuitive Abfolge von Spannungen.
»Es ist erstaunlich, wie der Geist durch Bewegung und körperliche Übung erregt wird …«
Alexander Baumgarten • Aesthetica § 81
Wir sind gewohnt, unseren Körper von außen zu betrachten, und zwar als etwas Behäbiges, das erst durch äußeres Einschreiten in Gang gebracht werden muss. Aber es gibt auch einen inneren Drang des Körpers zur Bewegung und der geht einher mit dem Bewusstsein für ihn. Man kann dieser ›inneren Stimme‹ tatsächlich folgen und gerät schnell in einen eigenen Rhythmus 🥁 und einen eigenen Stil. Dafür braucht es keine Musik, keine ›Sets‹ an Übungen, keine Beispiel aus dem Internet. Nur ein inneres ›Körpergehör‹, das sich im Übrigen mit etwas Praxis sehr rasch entwickelt.
Kann man dadurch besser denken? Insofern ›Denken‹ waches, ergründendes und konzentriertes Bewusstsein bedeutet, definitiv ja. Es wird einen nicht unmittelbar zu einem besseren Mathematiker, Börsenmakler oder Schriftsteller machen. Aber es wird einem helfen, komplexe lebendige Phänomene präziser zu begreifen. Und das ist eine ganze Menge.
»Wer […] einer Geistesübung angestrengtes Nachdenken widmet, muß zugleich, indem er daneben auch Gymnastik treibt, der Bewegung des Körpers ihr Recht widerfahren lassen […].«
Platon (427-347 v. Chr.)
Was denkt ihr? Gibt es noch weitere Möglichkeiten, körperlich zu denken oder auf geistige Weise leiblich zu sein? Ich freue mich über weitere Anregungen! 💬
Auf bald, schönes Wochenende, gute Gedanken – und gute Gefühle euch allen!
Euer Adrian 😊