»Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.«
Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831)
Was macht den Zeitgeist unserer Tage aus? Verhärtete Fronten, Dogmatismus und Moralisierung? Mediengewitter, Beschleunigung, Turbo-Kapitalismus? Oder Egoismus, Beliebigkeit und Werteverlust?
Antworten gibt es zahllose. Der Journalismus wird nicht müde, neue Diagnosen für unsere Zeit zu stellen und sie mit routinierter Selbstsicherheit frischgezapft dem stets nach Neuem dürstenden Publikum darzureichen. 🗞️
Dabei ist der Begriff ›Zeitgeist‹ selbst Ausdruck eines bestimmten Zeitgeistes ⏳. Eines Zeigeistes, der weiter in die Vergangenheit reicht als alle aktuellen Trends. Geprägt wurde das Konzept ursprünglich von Herder (1744-1803) und Hegel (1770-1831) und erhielt in der Folge die Bedeutung: Jede Zeit hat ihre eigene Wahrheit, ihr Weltbild, ihre herrschenden Überzeugungen, ihre typischen Werte, ihren Horizont.
›Zeitgeist‹ = Die Ordnung des Sicht- und Sagbaren einer Zeit (in Anlehnung an Michel Foucaults ›Episteme‹). 👁️
Weder in der Antike noch im Mittelalter oder in der Renaissance wäre man darauf gekommen, die eigene Welt, so wie man sie wahrnimmt, für den Ausdruck eines aktuellen ›Zeitgeistes‹ zu halten. Stets ging man davon aus, dass es eine vom Menschen unabhängige, objektive Realität gibt.
Inwieweit wir fähig sind, diese zu erkennen, darüber wurde jahrhundertelang viel gestritten und nachgedacht. 🤔📚 Aber ganz gleich, welches Konzept man für überzeugend hielt, ging doch jeder davon aus, dass die Wahrheit der Welt irgendwie zeitlos sei. Platon (427-347) dachte sich die Realität als von ewigen Ideen bestimmt, für das Christentum ruhte das wahre Wesen der Dinge in Gottes Geist. 💭✨
»Jede Zeit hat ihre Aufgabe, und durch die Lösung derselben rückt die Menschheit weiter.«
Heinrich Heine (1797-1854)
Aber mit Immanuel Kant (1724-1804) begann sich das allmählich zu ändern. Wir erkennen nicht eine objektive Realität, sondern die Realität ist ein Ausdruck der Strukturen unseres Verstandes. Zeit und Raum etwa gibt es nicht an sich, sondern nur für mich. Wenn ich die Welt betrachte, sehe ich eigentlich in den Spiegel. 🧠🪞 Und sehe mich selbst. Die Welt ist unsere Einbildung.
Danach zerbrach das ›Universalwissen‹, das die Philosophie immer zum Ziel hatte, endgültig in zwei Strömungen, die eng mit der Entwicklung der Wissenschaften verbunden sind: 🌊
1) Naturwissenschaften 🔬: Erstarken im 19. Jahrhundert. Sie gehen (von wenigen Ausnahmen abgesehen) von einem naiven Naturalismus aus, d.h. die Welt existiert schlicht unabhängig vom menschlichen Verstand und dieser kann sie auf Grundlage von Experimenten und mathematischer Modellierung verstehen, erklären, imitieren und beeinflussen.
2) Geisteswissenschaften 👤: Entstehen im 19. Jahrhundert. Sie nehmen an, dass unsere Welt eine subjektive Welt ist, für die keine objektive Wahrheit gilt. Was wir um uns herum sehen, ist nicht eine natürliche Gegebenheit, sondern ein Sinnkonstrukt.
Im 20. Jahrhundert werden beide Strömungen immer mächtiger. Die Naturwissenschaften können zahllose technische Neuerungen vorweisen und eine ungeahnte Weltbeherrschung ermöglichen. 🚀🤖💡 Zugleich werden in den Geisteswissenschaften immer neue Konzepte für die Beschreibung unserer subjektiven Welt entworfen: Eigentlich, so heißt es, leben wir alle in Narrativen 📖 (Stories), die wir permanent uns selbst erzählen. Oder in Symbolsystemen 🔣, die unsere Welt mit Bedeutung aufladen. Oder in Texten 📚, die alles um uns herum miteinader verflechten und ein enges Gewebe von relevanten Informationen bieten. Oder in Sinnkonstruktionen 🧵, die unser Dasein durch Bindung an wesentliche Werte selbst wertvoll machen sollen.
»Wir werden im zwanzigsten Jahrhundert zwischen fremden Gesichtern, neuen Bildern und unerhörten Klängen leben.«
Franz Marc (1880-1916)
Konzepte, Ideen und Theorien dieser Art gibt es im Überfülle. Sie alle haben eines gemeinsam: Sie glauben, dass unsere Welt eine subjektive Welt und menschengemacht ist.
Wenn man das glaubt, ergeben sich daraus zwei wichtige Konsequenzen:
1) Alles könnte auch anders sein: Wir Menschen haben uns diese subjektive Welt so gebaut, wir können sie also auch anders bauen. 🛠️🏗️
2) Leid und Ungerechtigkeit sind ebenfalls menschengemacht und können und sollten verändert werden. Und zwar indem man die subjektive Welt (Narrative, Symbolsysteme, Texte, Sinnkonstrukte) ändert, die überhaupt erst zu diesem Leid geführt hat. ⚖️
Man muss, so die Grundidee, die Welt einfach umschreiben, damit sie besser wird. ✍️🌍 Man kann das, weil es keine objektive Welt gibt (die könnte man nicht so leicht verändern), sondern nur eine subjektive (die besteht ja allein aus Texten, Narrativen, Symbolen etc.).
Diese Idee bildet das Fundament für die Postmoderne, die maßgeblich den ›Zeigeist‹ der letzten Jarhzehnte im Westen geprägt hat. Sie hat viele Spielarten, z.B.
Post-Kolonialismus: 🌍 Versucht, die Ungerechtigkeiten in der Repräsentation des ›Orients‹ zu beheben.
Gender-Theorie: 🚻 Versucht, die Ungerechtigkeiten im Verhältnis der Geschlechter zu korrigieren, und solche Geschlechter ›sichtbar‹ zu machen, die im bisherigen Text ausgeschlossen oder missachtet wurden.
Diversity- und Subalterne-Forschung: 🌈 Fragt, wie und von wem die Machtlosen repräsentiert werden dürfen. Wer darf für die Sprachlosen sprechen? Wie kann ihnen Gehör verschafft werden? Wie können sie sichtbar gemacht werden?
»Alles ist ein Konstrukt. Daher kann alles anders konstruiert werden. Also lasst es uns besser re-konstruieren.« 🧱🔨 So könnte man die Agenda der Postmodernen in einem Satz beschreiben. Dafür muss man die bestehenden Sinngewebe de-konstruieren. 🔍 Man muss nach den assymmetrischen Diechotomien suchen (Subjekt>Objekt, Mann>Frau, Kultur>Natur, Eigenes>Fremdes), nach den geheimen Machtverhältnissen, die in die Klischees unserer Kultur eingelassen sind. Und dann muss man sie umschreiben, indem man a) entweder die alten Stereotype neu schreibt oder b) sie komplett auflöst.
Die Gegen-Reaktionen ließen lange auf sich warten. Aber sie kamen: Neue Rechte, Neo-Konservativismus, politischer Rechtsruck in vielen Ländern, ›Neuer Realismus‹ und Fundamentalismus. Oft genug verweisen ihre Vertreter selbst auf die Relativität von Wahrheit, auf ›Alternative Fakten‹ und instrumentellen Pragmatismus, wo es ihnen nützt. 🧨
Beides gemeinsam prägt den heutigen Zeigeist: ein Kulturkampf, der in den Vereinigten Staaten, Europa und Russland Massen mobilisiert und Wahlen entscheidet. 🗳️🔥
Es ist ein Zeitgeist, der darauf basiert, dass es in Wahrheit keine Wahrheit gibt, dass alles relativ und subjektiv ist. Dass wir nicht in einer objektiven Realität leben, sondern in ›selbstgesponnenen Bedeutungsgeweben‹ (Clifford Geertz, 1926-2006), die auch neu und anders gesponnen werden können. Das hätte Kant sich nicht träumen lassen, dass er diese Wirkung haben würde. 😮 Und doch nimmt die ganze Entwicklung bei ihm seinen Ausgang. Oder war er selbst nur Kind seiner Zeit? 😉
Was ihr den Geist der Zeiten heißt
Das ist im Grund der Herren eig’ner Geist,
In dem die Zeiten sich bespiegeln.
J. W. v. Goethe • Faust I (Mephistopheles)
Und was ist mit der Philosophie? Nicht nur für die Kunst (Subjektive Eindrücke statt ›Wesensschau‹), Psychologie (Nützliche Narrative statt ›Aufarbeitung des Verdrängten‹), Jurisprudenz (Tatbestandsmerkmale statt ›Klärung objektiver Sachverhalte‹) oder Moral (Traditionelle Werte aus Gewohnheit statt metaphysischer ›Menschenwürde‹) hat die Postmoderne massive Konsequenzen, sondern auch für die alte ›Königin der Wissenschaften‹. 👑
Ein verbindlicher Wissensrahmen (»Die Grundlagen der Logik sollte man beherrschen«) oder Kanon (»Platon muss man gelesen haben«) fällt weg. Denn die Postmoderne de-konstruiert auch hier nach Kräften: Wer hat den Wissensrahmen gesteckt? Wer hat den Kanon festgelegt? Sind diese Setzungen nicht ebenfalls bloß ein Ausruck von Machtverhältnissen? Und wer hätte das Recht, sich über die anderen zu erheben und solche Dinge zu bestimmen? Genau: niemand.
Die Konsequenz: Die Philosophie zersplittert (wie viele andere Wissenschaften) in tausenderlei Kleinst-Untersuchungen. Große Entwürfe und Meta-Erzählungen sind wegen ihrer Anmaßung verpönt. Man begnügt sich mit den Nischen.
Und abgesehen davon? Was macht die Philosophie, wenn es keine ›ewigen Wahrheiten‹ mehr zu finden gibt? 🌌
Ganz einfach: Sie betreibt selbst Zeitgeist-Analyse. 🕵️♂️
Philosophie seit der Postmoderne ist, insofern sie noch irgendeine Bedeutung hat, Gegenwartsdiagnostik. Sie beschreibt die Gesellschaft und ihre Dynamiken, die Merkmale der aktuellen ›Ära‹, gerne auch im Vergleich mit vergangenen ›Epochen‹. Wer immer sich heute im philosophischen Terrain hervortut, der übt sich in dieser Disziplin: H. Rosa, P. Sloterdijk, J. Habermas, S. Zizek, R. D. Precht, A. Reckwitz, M. Gabriel usw. usf.
Diese Leute sind ›sichtbar‹. 👀 Mit der Zeitdiagnostik als Hauptaufgabenfeld rückt die Philosophie näher an den Journalismus, an die Soziologie und an den Aktivismus, d.h. an die Politik. 📰🧑🏫✊ Sie versucht, ›ihre Zeit auf den Begriff zu bringen‹, wie Hegel meinte. Freilich hat sie ihren Konkurrenten gegenüber einen speziellen Nachteil: Sie kommt immer zu spät. Schon Hegel schrieb:
»Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht mehr verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.«
Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831)
Wenn der Tag vorbei und alles Wesentliche geschehen ist, dann erst steigt die ›Eule der Minverva‹, 🦉🌒 die Philosophie, hinauf in die Lüfte und versucht zu verstehen, was passiert ist. Sie versucht, den Zeitgeist zu erkennen. Insofern sie noch fliegen kann.
Aber gleitet sie tatsächlich noch durch die Lüfte? Oder hat sie längst eine Bruchlandung erlitten? Sind andere nicht viel besser geeignet, dem Zeitgeist nachzuspüren? Was denkt ihr? Oder ist meine Einschätzung ganz grundlegend falsch? Schreibt mir gerne, wenn ihr hierzu Einfälle habt! 💌
Ich wünsche euch wie immer gute Gedanken, ein schönes Wochenende 🌼 und viel Freude bei euren (nächtlichen) Rundflügen auf den unsichtbaren Strömungen des Geistes!
Bis nächste Woche!
Euer Adrian 😊